Montag, 2. August 2010

Leseprobe "Ynsanter - Seele des Feuers" Band 2

.
Kapitel 1
Geheime Pläne

„Ich grüße Euch, Odash“, erklang die melodische Stimme von Semesh Anthyr, während sie in den großen Raum eintrat.

Odash, der Feuerzauberer, saß im hinteren Teil seiner Bibliothek in einen tiefen Sessel versunken und sah beim Eintreten der Raukarii von seinem Buch auf. Als er die Sprecherin erkannte, begannen seine Augen zu glänzen und er zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht.

Semesh lief zielstrebig auf den Magier zu, der am Ende einer langen Reihe von Regalen, über und über gefüllt mit Büchern, auf sie wartete. Der Duft von Papier und Tinte stieg ihr in die Nase, gleichzeitig hing der Geruch des Kaminfeuers in der Luft. Odashs Sessel stand ganz nah am Kamin und sie musste etliche Meter zurücklegen, um ihn zu erreichen.

Heute handelte es sich nicht um ihren ersten und vermutlich auch nicht um ihren letzten Besuch beim Feuerzauberer, der eine so wichtige Rolle in den Plänen von Semesh und Calenor eingenommen hatte.

Noch vor einer Stunde hatte sie sich erst von Nezzir Rawon und dem charismatischen jungen Krieger verabschiedet und badete jetzt in absoluter Selbstsicherheit, ohne bisher den Diebstahl ihres Ringes wahrgenommen zu haben. Schon bald würde der alte Sklavenhändler ihr in etwaigen Belangen in Zyrakar behilflich sein, ohne zu ahnen, dass er sie dabei einen Schritt näher in Richtung des Götterschwertes Ynsanter brachte; genauso wie der Besuch bei Odash ihr noch weitere Informationen für die Jagd nach dem Schwert liefern sollte, während Nezzir angeblich unwissend blieb. Der Sklavenhändler half ihr und Semesh hinterging ihn dafür. Über diese Ironie wäre sie beinahe in schallendes Gelächter ausgebrochen, aber sie riss sich zusammen. Bedeutungsvollere Dinge warteten nun auf sie und vor allem musste sie ein kluges Köpfchen bewahren, um keine Fehler zu machen.

Semesh lief durch die Bibliothek und liebte es jedes Mal aufs Neue, durch schier unermessliches und unbezahlbares Wissen zu schreiten. Viele Schriften stammten sogar aus der Zeit vor Zakars Herrschaft, aber auch aus der Gegenwart. Ferner wusste Semesh, dass sich irgendwo in diesem Raum auch die Quelle der absoluten Macht befand – eine uralte Schrift von Neferrilion, deren Existenz kaum jemand kannte. Bei diesem Gedanken huschte ein Lächeln über ihr bräunliches Gesicht und die bernsteinfarbenen Augen begannen gierig zu leuchten.

„Es ist mir eine Ehre, die Tochter des Hohepriesters von Zyrakar in meinem bescheidenen Heim willkommen zu heißen“, entgegnete Odash, als Semesh vor ihm zum Stehen kam, und dabei erhob er sich von seinem Platz. Er klappte sein Buch zu, das in schwarzes Schlangenleder eingebunden war, und legte es sorgsam auf einem kleinen Tisch neben dem Kamin ab.

„Nicht so förmlich, mein geschätzter Magier, ich bin einfach eine Raukarii und meine Herkunft soll hier nicht genannt werden, das sollte Euch bekannt sein“, entgegnete Semesh rasch und mit einer Spur Ärgernis in der Stimme. Keiner durfte erfahren, dass sie sich in der Stadt aufhielt und so sollte es auch bleiben. Dabei verschwand ihr Lächeln und sie setzte eine stahlharte Miene auf.

„Verzeiht mir, meine Verehrteste. Ich bin einfach froh, Euch zu sehen, denn es gibt wahrlich Neuigkeiten zu berichten, die ich erst vor kurzem entschlüsselt habe.“

Daraufhin verbeugte sich Odash elegant. Anschließend lud er die junge Raukarii mit einer Geste ein, ihm gegenüber in einem weiteren Sessel Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich wieder in den eigenen und zusammen warteten beide schweigend, bis ein Diener ihnen jeweils ein Glas Rotwein gebracht hatte.

Odash war schon über tausend Jahre alt und ein Magier, der sich hauptsächlich mit dem Element Feuer auskannte. Daher stammte auch sein Beiname – der Feuerzauberer – den fast jeder in ganz Leven’rauka kannte. Seine bereits ergrauten kurzen Haare leuchteten im Schein des Feuers weiß. Die Falten im Gesicht kündeten von seinem hohen Alter und er trug eine karmesinrote Samtrobe, die seinen schmalen Körper umhüllte, während seine Augen im Licht wie glühende Kohle aufglimmten.

In früheren Zeiten hatte er sich seinen Ruf ehrlich erworben und darauf war der Düsteralb stolz. Besonders geschickt stellte er magische Artefakte her, die jedem Raukarii nach einer kurzen Unterweisung dienlich sein konnten. Natürlich tat er dies nur gegen eine anständige, meist aber auch zu hohe Entlohnung.

Eine weitere Begabung zeichnete Odash aus, und das waren seine Kenntnisse der alten Sprachen und Abhandlungen von und über Zanthera. Ihn hatten schon immer Bücher und Schriften interessiert und so sammelte er alles, was seine Finger einst berührt hatten. Auf der Suche nach stets neuen Texten kam er viel im ganzen Land herum, bis ihn vor dreihundert Jahren seine Reiseleidenschaft nach Caress geführt hatte, und hier war er für den Rest seiner Tage sesshaft geworden. Von der Stadt der Priester aus unternahm Odash nur noch kleinere Ausflüge ins nähere Umland, um seine Sammlung auch bis heute noch zu erweitern. Doch aufgrund widersprüchlicher Andeutungen verschiedener Raukarii aus Caress hatte ihn sein letzter Ausflug vor über hundert Jahren in den Wald von Levenara geführt, wo er vor Ort selbst Nachforschungen angestellt hatte. Dort hatte er interessante Dinge herausgefunden.

Einst hatte an jenem Ort ein seltsamer Einsiedler namens Venarez gelebt, der darüber hinaus auch noch ein Zevenaarpriester gewesen war. Dieser hatte damals in einem abgeschiedenen Turm, fünfzig Kilometer westlich von der Stadt Mayonta, gewohnt. Hier hatte der Feuerzauberer einen Glücksgriff getan. Unter mysteriösen Umständen war ihm – wofür er selbstverständlich persönlich die Verantwortung trug – eine Schriftrolle in die Hände gefallen, die er so niemals gesehen und an deren Existenz er nie geglaubt hatte. Aber die Andeutungen hatten sich als wahr entpuppt, denn es handelte sich um einen Originaltext des Gelehrten Neferrilion. Ein Wahrheitszauber hatte ihm die Echtheit des Fundes bestätigt, der fast zweitausend Jahre unbeschadet überstanden hatte. Dann hatte er rasch den Turm und dessen Bewohner vergessen und kurzerhand die kostbare Schrift gestohlen. Damit war er nach Caress zurückgekehrt und hatte nur ein Jahr später erfahren, dass dieser Venarez ebenfalls von der Bildfläche verschwunden und niemals wieder irgendwo aufgetaucht war.

Seither studierte Odash den Inhalt des ganz besonderen Textes und fand von Jahr zu Jahr interessante Dinge heraus. Natürlich hatte er schon früher Kapital aus seinem Wissen schlagen wollen, denn wer in der Stadt hätte so etwas nicht getan, besonders wenn das bedeutete, Profit und Vorteile zu erzielen. Das Glück kam schließlich ganz unverhofft vor drei Jahrzehnten in Form der Tochter des Hohepriesters von Zyrakar. Sie suchte seine Dienste, wobei sie ihre Beziehung zu Calenor Kurutamat geflissentlich verschwieg, während Odash ihr half, die Geheimnisse rundum Ynsanter zu lüften. Als dann knapp zehn Jahre später der Sklavenhändler Nezzir Rawon um die gleichen Informationen bat, verkaufte er sein Wissen gegen gutes Geld gleich an alle zwei. Das hielt auch weiterhin so an, die internen Intrigen der beiden Parteien gingen ihn nichts an. Aber in allererster Linie arbeitete er für sich und dann für Anarch Kurutamat und seine engsten Vertrauten. Dem reichsten und einflussreichsten Raukarii der Stadt war er treu ergeben und mischte auch gerne bei dessen Machenschaften tatkräftig mit.

Aber bei diesem heutigen Treffen vergaß er Caress, vergaß alle Düsteralben und ihre habgierigen Doppelspiele. Stattdessen konzentrierte sich der Raukarii auf seine Geschäftspartnerin und sein wohlverdientes Geld. Sie würde wieder eine Menge der besten Edelsteine in seine Taschen wandern lassen und nur wenige Tage später wäre Nezzir Rawon an ihrer Stelle.

Bei diesem Gedanken hätte Odash beinahe laut aufgelacht, denn er erfreute sich an seinem Spiel. Doch er konnte sich auch beherrschen und so schmunzelte er lediglich. Er wartete, bis sein Diener ihnen jeweils ein Glas Rotwein gereicht und dann die Tür zur Bibliothek hinter sich geschlossen hatte. Niemand sollte etwas von ihrem Gespräch mitbekommen.

„Odash, ich hoffe doch, dass Ihr Nezzir wie immer das Wichtigste von Euren neuen Erkenntnissen verschweigt?“, fragte Semesh besorgt und musterte ihr Gegenüber eingehend.

Der Magier war sich des Blickes bewusst und auch ihren Ärger kannte er nur zu gut. Natürlich würde er nichts verschweigen, aber er gab sich wie immer in ihrer Gegenwart unbekümmert und einzig und alleine der Tochter des Hohepriesters ergeben.

„Ihr könnt mir vertrauen, Verehrteste“, entgegnete er galant und lächelte. „Nezzir wird von mir nichts erfahren. Er kennt nur die Dinge, die Ihr zu diesem Zeitpunkt bereits wisst. Nicht mehr und auch nicht weniger.“

Semesh glaubte ihm nicht, aber blieb ihr eine andere Wahl? Sie brauchte Odash und hoffte inständig darauf, dass Calenor seine Arbeit als Spion bei dem Sklavenhändler wie immer gut machte und sie über seinen Fortgang informierte. Noch während sie darüber nachdachte, zog sie einen prallen Lederbeutel unter ihrem schwarzen Seidenkleid hervor.

„Diese Entlohnung soll mir Eure Verlässlichkeit einbringen“, lachte sie heimtückisch und trank anschließend einen Schluck Rotwein.

Odash konnte erahnen, dass sie sich unsicher fühlte, und das war in diesem Fall nicht förderlich für ihn. Die Raukarii wollte er als zahlende Kundin nicht verlieren, zugleich weidete er sich nur zu gerne an dem attraktiven Äußeren der Frau. So setzte er eine gekränkte Miene auf und schaute sie enttäuscht an.

„Ihr wisst, dass ich Euch treu ergeben bin und das wird auch so bleiben. Eure Edelsteine sind von hoher Qualität und machen mich zu einem reichen Mann. Nezzir besitzt nicht annähernd solch eine gute Ware und ihm gebe ich nur das, wofür er bezahlt. Seid versichert, das ist nicht viel.“

Bei diesen Worten beruhigte sich Semesh ein wenig. Vermutlich sprach der Feuerzauberer tatsächlich die Wahrheit und sie versuchte ihm zu trauen. Immerhin blieb der alte Sklavenhändler laut Calenor immer einen Schritt hinter ihnen und das würde hoffentlich auch so bleiben. Die mitgebrachten Edelsteine sicherten ihr vorläufig dieses angenehme Wissen.

„Dann lasst uns gleich zum Punkt kommen, welche Nachrichten habt Ihr für mich?“, fragte sie augenblicklich und ihre Neugier spiegelte sich in ihren Augen wider, die vor Vorfreude glänzten.

„Natürlich, kommen wir sofort zum Geschäft“, lächelte Odash höflich und wusste, sie zählte auf ihn. „Doch zuerst die Bezahlung, dann die Informationen.“

Die Tochter des Hohepriesters schnaubte ärgerlich. Nichtsdestoweniger tätigte der Magier diese Vorgehensweise immer und sie hoffte, das Geld lohnte sich am Ende auch wirklich. Sie nahm den Beutel voller Edelsteine und überreichte ihn dem alten Magier.

Gierig griffen seine dürren Hände danach und augenblicklich verschwand das Geld durch einen Zauber mitten im Nichts, wozu Odash lediglich einige unverständliche Worte sprach, die nur Magier verstanden. Der Geldbeutel landete daraufhin in seiner gut versteckten Schatzkammer, die durch eine Geheimtür direkt neben dem Kamin zu erreichen war und wo er sich selbst ein geheimes Labor eingerichtet hatte. Aber am meisten erfreute er sich an der Raukarii, die ihm geholfen hatte, diese Schatzkammer überhaupt erst zu füllen.

Odash griff anschließend nach dem Buch mit dem schwarzem Schlangenledereinband, das er zuvor auf dem kleinen Tisch am Kamin abgelegt hatte, und öffnete es an einer bestimmten Stelle. Er musterte das Geschriebene und seine Augen glühten geheimnisvoll auf. Dann räusperte er sich und blickte auf.

„Ich habe meine Neuigkeiten in diesem Buch niedergeschrieben, denn die kostbare Schriftrolle verwahre ich an einem geheimen Ort auf“, erklärte Odash ruhig, ohne etwas von seinen Gefühlen zu offenbaren. „Verzeiht mir, meine Liebe, aber dieses Geheimnis soll ja immerhin auch ein Geheimnis bleiben.“

Ein Mysterium, das ich mit Nezzir Rawon teile, dachte Semesh angewidert und biss sich auf die Lippen, um diese Worte nicht laut auszusprechen. Gierig griff sie schließlich nach dem Buch, starrte wie gebannt auf den Inhalt und las:

Geboren aus den Wirbeln der Zeit,
um zu bringen die Harmonie von Chaos und Ordnung
und zu dienen der Schöpfung immerfort.

Geboren aus dem Feuer der Liebe, das der Glaube hervorgebracht,
um zu erringen den Beistand und Zuneigung.
Doch verloren ist, was einst Hader schuf
und nun unbekannt der Ort.

Die Seele des Feuers ist erwacht.

„Einst geboren aus den Wirbeln der Zeit. Die Seele des Feuers ist erwacht“, wiederholte sie den Anfang und das Ende des Textes und richtete sich dann an Odash. „Was bedeutet das? Wird nicht in den Legenden Ynsanter als Seele des Feuers bezeichnet?“

Der Feuerzauberer kräuselte seine Lippen, tippte sich mit einem Zeigefinger gegen das Kinn und antwortete leise. „So ist es. Es heißt dort: �Zevenaar erschuf Ynsanter – das Schwert des Feuers – die Seele all seines Seins. Daher kann man auch sagen, Ynsanter ist die Seele des Feuers und dieser Text ist eine Prophezeiung.“

Semesh runzelte die Stirn. Eine Prophezeiung, sann sie nach. Das würde durchaus mit dem restlichen Inhalt der Schriftrolle übereinstimmen. Nicht nur, dass Zevenaar Zakar einst den Traum übermittelt hatte, sondern dass alles in Zusammenhang mit dieser neuen Botschaft stand. So las sie die Zeilen nochmals, aber irgendwie ergaben sie keinen Sinn und dann doch wieder. Kein Wunder, dass Zakar damals nicht weniger verwirrt darüber gedacht haben musste und vielleicht gerade deswegen seinen Gott missverstanden hatte. Aber diesen letzten Gedanken behielt sie geflissentlich für sich.

„Das ist nur ein Teil des Textes“, klärte Odash seine Geschäftspartnerin gleich daraufhin auf und fügte gedämpft hinzu. „Leider ist dies nur ein Teil des Inhalts. Der Rest ist zu meinem größten Bedauern auf einer anderen Schriftrolle niedergeschrieben worden.“

„Dann müsst Ihr die andere Schriftrolle finden“, entgegnete Semesh rasch und ahnte, dass der Magier womöglich etwas verschwieg oder zumindest sich etwas dazu überlegt hatte.

„Dazu muss ich Euch etwas erzählen“, bedeutete Odash. „Der Text ist kostbar und einmalig und nur widerwillig würde ich so etwas in den Händen eines anderen wissen, daher will ich nochmals zu diesem Turm im Wald von Levenara reisen. Ich hoffe, dort neue Erkenntnisse zu finden, um dem Rätsel sein Geheimnis zu entlocken.“

Odashs Stimme klang allerdings wenig zuversichtlich.

„Nun denn, dann tut es schnell und informiert mich augenblicklich, sobald Ihr neue Informationen besitzt“, meinte Semesh und klang beunruhigt. Gleichzeitig beschäftigte sie die Prophezeiung und sie hätte gerne deren genauere Bedeutung gewusst, denn ihre Neugier war geweckt. „Aber vielleicht würdet Ihr mir vorher sagen, Odash, steckt hinter den Silben eine ganz bestimmte Bedeutung?“ Mit dieser Wortwahl konnte sie geschickt ihre eigene Unwissenheit verbergen, wo sie doch immer so klug erschien.

„Es handelt sich um eine Aufzeichnung der Entstehungsgeschichte von Ynsanter. Ich gehe davon aus, dass im fehlenden Teil womöglich der Ort genannt wird, wo das Götterschwert zu finden ist.“

„Vermutungen, Odash, nichts als Vermutungen“, ärgerte sich die Raukarii plötzlich und ließ ihre geballte Faust auf die Lehne des Sessels krachen. „Ich will aber die Wahrheit wissen! Was interessiert mich die Entstehungsgeschichte. Ich benötige den Aufenthaltsort von Ynsanter.“ Aber trotz ihrer Wut gab sie dem Raukarii innerlich recht, denn der Inhalt der Schriftrolle über den Traum von Zakar und diese merkwürdige Prophezeiung gehörten zusammen. Daher fand sie es auch nicht ungewöhnlich, dass sich beides auf ein und demselben Pergament befand, wenn auch der Rest zum größten Bedauern fehlte.

„Wenn Ihr schon zum Turm reist, dann versucht auch weitere Schriftrollen des Neferrilion zu finden“, forderte sie den Magier auf. „Die Schriften sind kostbarer als vieles bisher und immerhin sind es Originale und keine billigen Abschriften wie in den Zevenaartempeln oder wie sie mein Vater besitzt, in denen nichts steht, was nicht schon längst alle wissen.“ Daraufhin lachte Semesh kurz auf, denn die Ironie gefiel ihr. Als sie sich wieder gefangen hatte, wandte sie sich erneut an den Magier. „Odash, wo es eine gibt, da befinden sich auch andere. Das kann sich ein kleines Kind zusammenreimen und ich möchte endlich das besitzen, was ich seit dreißig Jahren aus tiefstem Herzen begehre.“

Jetzt schnaubte Odash verächtlich und setzte zu einer Antwort an. „Meine verehrte Semesh, was ich damals in diesem Turm gefunden habe, das war reiner Zufall! Dieser Venarez war und – falls er heute noch leben sollte – ist ein komischer Kauz. Er erzählte mir, dass er früher einmal ein Zevenaarpriester gewesen war und als ich über ihn Nachforschungen betrieben habe, habe ich herausgefunden, dass niemand einen Kleriker mit diesem Namen kennt, niemand! Dass er auch noch solch eine kostbare Schriftrolle besaß, hat mich selbst zum Staunen gebracht. Wenn ich keinen Wahrheitszauber angewendet hätte, ich würde es bis heute nicht glauben.

Daher lautet die Frage wohl eher, wie ist er an diese Schriftrolle gekommen?“

Anschließend schwieg Odash, leerte zur Stärkung seines Gemüts das Glas Rotwein in einem Zug und stellte es auf dem Tisch neben dem Kamin ab.

Diese Worte überzeugten Semesh, denn aus diesem Blickwinkel hatte sie die ganze Sache noch nicht betrachtet. Die Raukarii entspannte sich daher ein wenig und tat es dem Magier gleich.

„Ich gebe Euch in dieser Hinsicht recht“, entgegnete sie und es klang schon fast wie eine Entschuldigung. Aber bei dem Feuerzauberer würde sie sich niemals demütig geben, denn er bekam immerhin eine hohe Summe kostbarster Edelsteine dafür, dass er ihr half.

Odash räusperte sich, beugte sich nach vorne und nahm seiner Geschäftspartnerin erst einmal sein Notizbuch aus der Hand. Dieses verschwand so plötzlich im Nichts wie kurz zuvor der Lederbeutel mit der Bezahlung. Dann setzte er von Neuem an, denn er hatte selbst noch etwas in petto.

„Aber vergesst kurzzeitig den Einsiedler Venarez und seinen Turm im Wald von Levenara. Wenn er tatsächlich weitere Schriftrollen von Neferrilion sein Eigen nennt, dann hat er die anderen Texte vermutlich nach meinem Diebstahl vorsorglich in Sicherheit gebracht. Daher könnte sich meine Suche in die Länge ziehen und meine Zauber helfen mir dabei nicht viel. Aber ich arbeite an einem neuen Spruch, der mir eine Stütze sein sollte …“

„Kommt auf den Punkt“, unterbrach ihn Semesh ungeduldig und lehnte sich in dem Sessel nach vorne. Das Licht des Kaminfeuers brachte ihre bernsteinfarbenen Augen zum Glühen und verliehen ihnen einen bösartigen Schimmer.

Odash ließ sich allerdings nicht aus der Ruhe bringen. Er hatte ihr nur die einfachen Tatsachen erklärt, die ihn erst vor kurzem auf die nachfolgende Idee gebracht hatten. Nun war es an dem Magier sich nach vorne zu beugen. Anschließend flüsterte er ruhig und gelassen seinem Gegenüber zu: „Was ich damit sagen möchte, ist, dass es eine andere, weitaus bessere Vorgehensweise gibt, den Aufenthaltsort von Ynsanter zu finden. Eine, an die bisher niemand gedacht hat und zu der man nicht einmal die Schriften des Neferrilion benötigt.“

Semesh riss ihre Augen weit auf, ihre Augenbrauen zogen sich nach oben und mit einem fragenden Blick starrte sie den Feuerzauberer verdutzt an.

„Ja, meine Verehrteste, wenn man dies alles außer Acht lässt, dann dürft Ihr eines nicht vergessen, den Clan Varas aus Ianara.“

Daraufhin lächelte Odash hinterhältig, lehnte sich gemütlich in seinem Sessel zurück und wartete ab, wie die Raukarii auf seine Worte reagieren würde.

Semesh tat es ihm gleich und wusste im ersten Moment nicht, was sie darüber denken sollte. Aber vielleicht konnte sie es erahnen.

„Ihr meint vermutlich, weil der Clan Varas geholfen haben soll, das heilige Schwert an einem geheimen Ort zu verstecken?“, fragte sie unverblümt.

Odash nickte und sein Lächeln wurde breiter. „So ist es und habt Ihr mir nicht selbst einmal erzählt, dass Euer Schwager Ataran dem Clan Varas angehörte?“, kam die Frage nun an die Raukarii.

Semesh grinste plötzlich boshaft und entblößte ihre weißen Zähne. Denn des Rätsels Lösung lag klar auf der Hand. Wieso war sie nicht schon viel früher auf diese Idee gekommen? Als sie sich des vollen Ausmaßes dieser Worte bewusst wurde, hätte sie beinahe vor Freude laut aufgeschrien. Die Nachricht von Atarans Tod war schon eine freudige Botschaft gewesen und nun brachte diese auch noch unermesslichen Reichtum mit sich. War es vielleicht Vorhersehung gewesen? Vermutlich nicht, aber Glück spielte womöglich eine große Rolle und innerlich gratulierte sie Nezzir Rawon zu dem tollen Schachzug, der ihr so unverhofft einen großen Dienst erwiesen hatte. Nicht nur das, denn die Worte von Odash beinhalteten auch einen grandiosen Plan. Niemals hätte sie dem alten Feuerzauberer eine solche Raffinesse zugetraut, aber sie hatte anfänglich auch nie daran geglaubt, dass sich eine so kostbare Schriftrolle in seinem Besitz befand.

.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Dein Kommentar