Montag, 2. August 2010

Leseprobe "Pech und Schwefel"

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„Sieh mal Weecran!“, ertönte wie aus dem Nichts eine laute Stimme, die sich den Brüdern langsam näherte.
Schlagartig öffnete Nomarac die Augen, fühlte sein Herz vor Angst schneller schlagen und bemerkte sofort die bebenden Glieder von Ronor, der neben ihm aufmerksam lauschte.
„Ja, dort drüben“, antwortete ein zweiter Unbekannter mit heiser-nem Unterton.
Nomarac und Ronor blieb keine Zeit mehr, sich unter den Zweigen in Sicherheit zu bringen, da tauchten vor ihnen schon drei junge Raukariimänner auf. Sie trugen nicht die Uniformen der Stadtwache, sondern ihr äußerliches Erscheinungsbild war den zwei Kindern völlig fremd. Der erste besaß lange schmierige Haare, die ein verschmutztes Gesicht umrahmten und der sie mit einem merkwürdigen Lächeln beobachtete. Seine Kleidung war erbärmlich, denn außer einer löchrigen Hose und einer ziemlich seltsamen Weste trug er ansonsten nichts mehr, außer einem Gürtel. In diesem steckte etwas, dass einer verrosteten Speerspitze entsprach. Die anderen zwei sahen nicht wirklich anders aus, wobei dem Kleinsten die rechte Hand fehlte. Der Armstumpf war mit einer dreckigen Binde abgebunden. Er fixierte vor allem Ronor mit einem stechenden Blick.
„Wer seit ihr?“, fragte der Raukarii ohne Hand und kam einen Schritt näher.
Die Zwillinge zuckten leicht zusammen, doch dann rissen sie sich zusammen und richteten sich kniend auf. Die Hand des einen umklammerte die Hand des anderen. Dabei bemerkten sie nicht, wie sehr ihre Kleidung inzwischen der der drei Fremden ähnelte. Ihre einst weißen Seidenhemden waren grau und von kalter Asche verschmiert, sie wiesen einige Risse auf. Die ehemals dunkelblauen Tuniken, welche ihre Mutter mit viel Liebe für sie genäht hatte, waren ebenfalls schmutzig und die teilweise aufgerissenen Säume kündeten von den schrecklichen Stunden des Aufstandes. Ihre schwarzen Hosen hatten überall Flecken, während ihre braunen Gesichter mit Ruß verdreckt und die roten schulterlangen Haare völlig strubbelig herunter hingen.
„Die wollten bestimmt die besten Stücke für sich behalten, Weecran“, sagte der Kleinere ohne Hand und sah den Angesprochenen mit funkelnden Augen an.
„Davon bin ich nicht ganz überzeugt, Yovmor“, entgegnete dieser und kam einen Schritt näher, während die Brüder einige Zentimeter nach hinten ins Gestrüpp auswichen.
„Ihr braucht doch keine Angst zu haben, außer ihr wollt unsere Beute wirklich stehlen“, lachte Weecran laut.
„Ich glaube eher, die sind neu in der Stadt“, meldete sich nun der Dritte zu Wort, der bisher einfach nur dagestanden und zugeschaut hatte. Sein Name lautete Nysayor und er und seine Kameraden gehörten einer kleinen Diebesbande von Mayonta an, die den klangvollen Namen „Jäger der Nacht“ trugen. Sie hatten den gestrigen Tag unruhig in ihrem Versteck abgewartet und sich erst am Morgen ins Freie geschlichen, um aus den vielen Ruinen der eingestürzten Häuser Beute zu ergattern, um sie später für gute Edelsteine an andere verkaufen zu können. Als sie vor einer Stunde heimlich die Stadtwachen belauscht und erfahren hatten, dass auch das Haus des Hohepriesters in Schutt und Asche lag, waren sie sofort hierher aufgebrochen.
„Wo kommt ihr also her?“, wollte nun Weecran wissen und ließ seine Hand beiläufig an die verrostete Speerspitze wandern, um seinen Worten mehr Nachdruck und seiner Position, als Anführer der kleinen Diebesbande, mehr Autorität zu verleihen.
Ronor zitterte noch immer, aber die Nähe von Nomarac gab ihm den nötigen Mut und Schutz, den er zurzeit dringend benötigte. Nomarac wiederum überlegte fieberhaft, was er antworten sollte. Die Gefahr war groß und weil er erst vor kurzem von seinem Vater gesagt bekommen hatte, er sollte Fremden niemals trauen, entschied er sich kurzerhand für eine Lüge.
„Wir kommen aus Surnlor“, bedeutete Nomarac und legte all seine Überzeugskraft in diese Erklärung.
Doch kaum waren sie ausgesprochen, zupfte ihn Ronor am Ärmel, beugte sich nach vorne und flüsterte ihm ins Ohr. „Mama sagt doch immer, wir dürfen nicht lügen.“
Eilig lehnte sich nun Nomarac zu seinem Bruder hinüber und murmelte für die anderen unverständlich: „Ich weiß, aber wir dürfen ihnen auch nicht sagen, wer wir wirklich sind. Verstehst du?“
Das leuchtete Ronor ein und überließ seinem Zwillingsbruder das Reden.
„Surnlor ist zwei Tagesmärsche von hier entfernt“, grübelte Weecran nach und erhielt ein bestätigendes Nicken von Yovmor und Nysayor. „Was macht ihr aber dann in Mayonta?“
„Das geht dich nichts an“, rief Nomarac lauter als beabsichtigt und spürte eine nie gekannte Wut in sich aufsteigen.
„Schon gut“, meinte Weecran und hob beide Hände in einer versöhnlichen Geste. „Aber damit eines klar ist, die Beute gehört uns!“
Kurz darauf wandten sich alle drei jungen Männer von den Zwil-lingen ab und stapften durch die Geröll- und Aschehaufen davon. In ihrem Versteck blieben die Brüder alleine und starrten mit gemisch-ten Gefühlen hinterher.
„Und was machen wir jetzt? Wie bist du überhaupt auf Surnlor gekommen?“, fragte Ronor neugierig und sah über seine Schultern zu den Raukarii, die in den Ruinen herumwühlten.
„Erst vor einer Woche hat Papa von dem Dorf gesprochen und es ist immer besser, wenn wir nicht sagen, wo wir herkommen“, erklärte Nomarac. „Wir sagen es nur, wenn es nötig wird.“
„Ich habe Durst“, wechselte Ronor das Thema und dabei knurrte sein Magen.
„Komm, wir gehen in die Stadt und fragen, ob uns jemand etwas gibt“, antwortete Nomarac zuversichtlich, obwohl er innerlich nicht wirklich daran glaubte. Doch auf einen Versuch käme es immerhin an, wobei er selbst nicht wusste, was sie tun sollten. Ihre Eltern waren tot, sie konnten niemandem trauen und in der Nähe der Diebe sollten sie auch nicht bleiben.
Daher half er Ronor beim Aufstehen, der auf schwachen Beinen hinter dem Holunderbusch zum Vorschein kam. Die Raukarii ignorierten sie geflissentlich und so liefen die Zwillingsbrüder vorsichtig durch ihr zerstörtes Zuhause und erreichten die Pflasterstraße, die sie ins Stadtinnere führen würde. Als sie mitten auf der Straße standen, war dort weit und breit niemand zu sehen, außer den Häusern ihrer Nachbarn, die mittlerweile ebenfalls nichts weiter als verkohlte Überreste waren.
„Das ist unheimlich“, flüsterte Ronor und umklammerte die Hand von Nomarac nur umso fester, der es ihm gleichtat.

Gemeinsam liefen sie die verlassene Straße entlang. Die Sonne schien auf ihre Köpfe und wärmte sie an diesem trostlosen Herbstmittag, die Vögel zwitscherten eine traurige Melodie und die Ge-sichter der beiden sprachen von ihrem inneren Leid.
Nach einer halben Stunde erreichten Nomarac und Ronor die ersten Häuser des Stadtzentrums. Hier herrschte immer noch das wahre Chaos. Viele Bürger, die am gestrigen Tag heil mit ihrem Leben davon gekommen waren, darunter auch viele Soldaten, eilten mit schnellen Schritten hin und her. Fast jedes Gebäude besaß eingeschlagene Fenster, eingetretene Türen und einige davon wiesen Brandspuren auf. Zudem hatten heute viele Geschäfte geschlossen, während die Besitzer lauthals vor der Ladentür ihr Leid klagten und die Stadtwachen sie zu beruhigen versuchten. Auch schreiende Kinder liefen umher und riefen nach ihren Eltern oder die Mütter hielten sie an den Händen und mischten sich unter die herumwuselnde Raukariimenge.
„Ich glaube, hier werden wir kein Glück haben“, sagte Nomarac laut zu Ronor und versuchte damit den Straßenlärm um sie herum zu übertönen.
„Wir könnten doch zum Tempel gehen“, schlug Ronor lächelnd vor und hoffte, dort nicht nur ihre Eltern, sondern auch die Zevenaarpriester anzutreffen, die sie kannten und die ihnen ganz sicherlich helfen konnten.
Nomarac nickte und schon liefen sie die Straße weiter, immer tiefer ins Zentrum hinein. Vorbei an dem großen Stadtpark von Mayonta. An diesem Ort, wo tagtäglich viele Familien ihre Zeit verbracht hatten, herrschte in der Mittagssonne nur gähnende Leere. Die Spazierwege lagen verlassen da. Aber die farbenfrohen Blumen blühten und ein leichter Wind blies ihre angenehmen Düfte zu den Zwillingen hinüber, und vertrieb für einige Momente ihre niedergedrückte Stimmung. In einiger Entfernung hörten sie auch das Wasser des großen Springbrunnens plätschern und das Geräusch brachte ihnen ein wenig Realität zurück, die ihnen Mut verlieh, den sie benötigten. Denn nun waren sie alleine auf der Welt und konnten nur erahnen, wo ihre verstorbenen Eltern hingebracht worden waren.
Als sie den Stadtpark hinter sich gelassen und zwei kleine Straßenkreuzungen überquert hatten, erreichten beide endlich ihr Ziel. Vor ihnen erstreckte sich groß und prachtvoll der Zevenaartempel in den blauen Himmel. Eines der vielen Gotteshäuser des Feuergottes in Leven’rauka. Er maß in Länge und Breite hundert Meter und bestand völlig aus schwarzem Marmor. An den oberen Mauervorsprüngen reckten sich kleine Zinnen hinauf und an den vier Ecken gab es jeweils einen Wachturm. Gleichzeitig war die Außenfassade von goldenen Ornamenten geschmückt, die fast ausschließlich das verschollene Götterschwert Ynsanter präsentierten, welches eines der göttlichen Symbole ihres Glaubens darstellte. Das alles machte den Tempel schon glanzvoll genug, der in der Bauweise seinem großen Vorbild in der Hauptstadt Zyrakar ähnelte. Ringsherum waren meterhohe glasklare Kristallfenster eingelassen, die am Tag das Sonnenlicht und in der Nacht das silbrigweiße Mondlicht ins Innere hinein ließen und alles in ein sanftes Glühen einhüllten.
Die Zwillinge gingen geradewegs auf die nicht minder große Doppelflügeltür aus Gold zu, die weit offen stand und jedem den Blick ins Innere zeigte. Zu beiden Seiten standen jeweils fünf bewaffnete Wachen, die streng ihren Blick über die Raukarii schweifen ließen, welche an ihnen vorbei strömten.
Die Brüder versuchten sich nicht beirren zu lassen und machten sich zum Tempeleingang auf. Kaum dort angekommen, versperrte ihnen plötzlich eine Stadtwache den Weg und funkelte sie verächtlich an.
„Haut ab!“, sagte der Raukarii, der gleichzeitig Hauptmann der kleinen Soldatengruppe war.
„Wir brauchen Hilfe“, entgegnete Nomarac flehentlich und Ronor setzte hinzu: „Wir wollen unsere Eltern sehen.“
„Was ihr wollt oder nicht, interessiert mich nicht“, antwortete die Wache stur und knurrte ungehalten. „Zwei dreckige Straßenkinder haben kein Recht in den Tempel zu treten. Wisst ihr nicht, was passiert ist?“
„Doch, das wissen wir sehr wohl“, meinte Ronor, der durch den Schutz seines Bruders ein wenig lauter sprach. Er wollte unbedingt seine Eltern sehen, auch wenn sie nicht mehr lebten und daran durf-te sie niemanden hindern. „Unsere Mutter hat uns versteckt, kurz bevor die Männer kamen und unser Haus in Brand steckten. Wir sind nämlich Josias und Seyldia Anthyrs Söhne.“
Kaum hatte Ronor geendet und Nomarac ihm zufrieden auf die Schulter geklopft, denn besser hätte er es auch nicht sagen können, brachen die Stadtwachen in schallendes Gelächter aus.
Irritiert und wütend blickten die Zwillinge die Männer an.
„Lasst euch eine andere Ausrede einfallen, ihr dreckigen Diebe“, erklärte ein anderer Soldat und gesellte sich zu seinen Kameraden. „Mittlerweile haben schon sechs stinkende Ratten vor euch diese Erklärung abgeliefert und ihr glaubt, ihr würdet damit Erfolg haben? Vergesst es und haut endlich ab, bevor wir richtig wütend werden.“
Der vorletzte Satz war zwar keine Frage, sondern eher eine Feststellung und dennoch ballte Ronor plötzlich die Hände zu Fäusten und rannte auf den Wachmann zu. Mit all seiner verbliebenen Kraft schlug er ihm in den Magen, doch die Lederrüstung schützte den Mann gut, während er lediglich ein zynisches Lächeln zur Schau trug, ohne sich zu wehren.
„Lügner!“, rief Nomarac und spurtete zu seinem Bruder.
Gemeinsam erhoben sie ihre Fäuste und schlugen zu, solange, bis zwei weitere Raukarii einen kurzen Augenblick später die Jungen an den Armen wegzerrten und sie dann schmerzhaft auf den Rücken bogen. Unter Tritten und Gekreische wollten sie sich losreißen, aber leider waren sie kleiner und weitaus kraftloser als die muskulösen Stadtwachen.
Nachdem sich diese Eskalation erst nach wenigen Minuten beruhigte und die Zwillinge sich weiter im festen Griff wanden, kam der Hauptmann der wachhabenden Männer auf sie zu, blieb vor ihnen stehen und fixierte sie mit finsterem Blick.
„Ihr zwei seid nichts weiteres als erbärmliche Straßenköter!“, schleuderte er Ronor und Nomarac entgegen, die ihn mit wutverzerrtem Gesicht beobachteten und sich unbedingt befreien wollten. „Habt ihr mir nicht zugehört? Hier gibt es keinen Einlass für verwahrloste Gören, wie euch. Außerdem sind die Kinder des Hohepriesters tot und gemeinsam mit unserem verstorbenen Oberhaupt von Mayonta im Tempel aufgebahrt. Also verschwindet von hier und lasst euch nicht mehr blicken.“
Auf Grund dieser Ungeheuerlichkeit wurde der Zorn der Zwillinge nur umso größer und Nomarac biss seinem Häscher in die Hand. Mit einem schmerzhaften Schrei ließ dieser los, aber schon war der nächste Raukarii zur Stelle und verpasste dem frechen Jungen eine Ohrfeige.
Auf der anderen Seite sah Ronor seinen Bruder und nahm sich ein Beispiel an ihm. Er drehte den Kopf nach rechts und wollte bereits die Zähne in die Finger rammen, da traf ihn ein Schlag auf die Schläfe. Leicht benommen und verwirrt ließ er von seinem Vorhaben ab und hörte durch einen dämmrigen Schleier nur Nomarac seinen Namen rufen. Als er darauf antworten wollte, folgte ein weiterer Schlag auf dieselbe Stelle, ihm wurde schwindlig und er fiel in Ohnmacht.

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